Rede vom 23.08.13: Der beste Verfassungsschutz ist eine sozial gerechte Gesellschaft
Es gilt das gesprochene Wort!
Zu TOP 40 – Verfassungsschutzbericht 2012 sagt der innenpolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Burkhard Peters:
Der beste Verfassungsschutz ist eine sozial gerechte Gesellschaft
Eine Rede der Grünen unter Regierungsbeteiligung zu einem Verfassungsschutzbericht könnte eine heikle Sache sein! Die Haltung der Grünen zum Zustand des Verfassungsschutzes in Deutschland ist mit „kritisch“ noch zurückhaltend ausgedrückt. Unter Hinweis auf das Versagen der Verfassungsschutzämter bei den NSU-Verbrechen konstatiert das aktuelle Bundestagswahlprogramm der Grünen (ich zitiere Genehmigung des Präsidiums): „Die von den Grünen angestoßenen Untersuchungsausschüsse haben das massive Versagen von Polizei und Geheimdiensten ans Licht gebracht. Für das ganze Geheimdienstwesen muss es eine klare Zäsur und einen umfassenden strukturellen und personellen Neustart und eine Neuausrichtung der Aufgaben geben.“
Unter anderem wird gefordert, auf den Einsatz von V-Leuten zu verzichten.
Der gestern veröffentlichte Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschuss - von der CDU bis zu den Linken gemeinsam formuliert – kommt jetzt ebenfalls zu einem vernichtenden Urteil über das Agieren der Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung der Mordserie: über alle Parteigrenzen hinweg ist man sich einig, die Ermittlungspannen stellen auch im Zusammenspiel mit dem Verfassungsschutz ein „beispielloses Desaster“ dar.
Die Kritik am Verfassungsschutz setzt an vielen Punkten an:
- An einem fragwürdigen Extremismusbegriff der Behörden;
- An strukturellen und historisch bedingten Sehschwächen auf dem rechten Auge;
- An den Erkenntnisquellen, die größtenteils aus Presse und öffentlich zugänglichen Verlautbarungen bestehen. Das birgt die Gefahr, den Entwicklungen hinterher zu hinken. Die selbstreklamierte „Frühwarnfunktion“ könnte daher schon aus Gründen der Logik nicht erfüllt werden;
- Soweit es sich nicht um öffentlich zugängliche Quellen handelt, stammen die Informationen von ausländischen Geheimdiensten oder von V-Leuten. V-Leute sind höchst dubiose Akteure aus der beobachteten Szene mit ganz eigener Agenda. Auch dafür bot der NSU-Aufklärungsprozess genügend Anschauungsmaterial;
- Nicht zuletzt wird kritisiert, schon aus der Strukturlogik eines „Geheimdienstes“ sei klar, dass der Verfassungsschutz selber unkontrollierbar sei, die parlamentarischen Kontrollinstanzen seien gegenwärtig (ich zitiere den Staatsrechtler Gusy) „blinde Wächter ohne Schwert“.
Was bedeuten diese Befunde für den vorliegenden Verfassungsschutzbericht 2012:
1. Auch diesem Bericht liegt ein Extremismusbegriff zugrunde, der menschen- und demokratiefeindliche Denk- und Verhaltensmuster nur in Randbereichen der Gesellschaft verortet. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung über rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung aus dem Jahr 2012 belegte zuletzt erneut erschreckend eindrucksvoll, dass dieser Ansatz viel zu kurz greift und aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht verfehlt ist. Ganz aktuell zeigen die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Berlin-Hellersdorf, was das eigentliche Problem ist.
2. Eine Blindheit auf dem rechten Auge kann man dem Bericht jedoch nicht vorwerfen. Er zeichnet auf 40 Seiten ein realistisches Bild von der Existenz und besorgniserregend hohen Zahl rechtsradikaler Aktivitäten in Schleswig-Holstein. Besonders erschreckend ist die Zahl von 210 Neo-Nationalsozialisten, also Leute, die sich noch nicht einmal die Mühe machen, ihre Bewunderung für den Nationalsozialismus zu verbrämen. Eine Ungenauigkeit des Berichts auf S. 50 ist in diesem Zusammenhang festzustellen: die im Lauenburgischen unter dem Kürzel „NASO-LB“ auftretende Gruppe nennt sich nicht „Nationale Offensive Hzgt. Lauenburg“, was ja schon schlimm genug wäre, sondern „Nationale Sozialisten – Offensive Hzgt. Lauenburg“. Der offene Bezug auf die NSDAP in der Namensgebung zeigt also schon, dass es sich bei dieser Gruppe um tiefbraune Neonazis handelt. Auch die Tatsache eines NPD-Abgeordneten im Lauenburgischen Kreistag wäre in diesem Zusammenhang erwähnenswert gewesen. Der „Thor Steinar“- Laden in Glinde als Hotspot rechtsradikaler Aktivität in SH, durchaus durch die Medien bekannt, hätte auch einer Erwähnung bedurft.
3. Im Bereich der Darstellung linksextremistischer Bestrebungen fällt durchgängig eine verbale Überhöhung der Gefährlichkeit und Gewaltbereitschaft der entsprechenden Szene auf. So wird an mehreren Stellen dargelegt, dass eine „unverändert hohe Bereitschaft gewaltbereiter Linksextremisten bestehe, auch mit strafrechtlich relevanten Aktionen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vorzugehen“. 34 Gewalttaten sollen es gewesen sein. Konkret werden allerdings im Wesentlichen Sachbeschädigungen benannt. Bei einer Ausnahme handelt sich um einen tätlichen Angriff auf einen Rechtsextremen mit einem Stock, wobei konkrete Verletzungen nicht benannt werden. Ich verurteile jede Form der Gewalt und nichtdemokratischen Auseinandersetzung, aber unter strafrechtlich relevanten Gewaltaktionen, die zu alledem die freiheitlich demokratische Grundordnung bedrohen, stelle ich mir etwas anderes vor.
4. Bei der Beschreibung extremistischer Bestrebungen mit Auslandsbezug ist das Bemühen, zwischen Islam, Islamismus und Jihadismus zu differenzieren, durchaus zu begrüßen. So wird auch bei der Beschreibung des Salafismus durchaus zwischen nicht-gewaltbereiten Strömungen und jihadistischen Bestrebungen unterschieden. Die konkret auf Schleswig-Holstein bezogenen Erkenntnisse bezüglich eines gewaltbereiten Islamismus bleiben jedoch marginal. Zu begrüßen ist, dass im Bericht bezüglich der PKK bereits eine vorsichtige Annäherung Öcalans und der türkischen Regierung reflektiert wird. Dem sollte eine Erwägung folgen, kurdische Organisationen von der künftigen geheimdienstlichen Beobachtung auszunehmen.
Insgesamt fällt in dem Bericht eine gewisse Theorielastigkeit auf. Zum Beispiel beinhalten 20 Seiten ausschließlich eine allgemein Darstellung der verschiedenen international agierenden Jihadisten ohne jeglichen Bezug zu Schleswig-Holstein. Das faktisch wirklich Relevante steht vermutlich aus geheimdienstlichen Erwägungen nicht drin. Insoweit fällt es schwer, allein aus dem Bericht die Notwendigkeit der Beibehaltung eines Dienstes mit ca. 100 Beschäftigten herauszulesen.
Immerhin haben wir in Schleswig-Holstein bisher keinen Skandal um den Verfassungsschutz zu verzeichnen, wie er im Zusammenhang mit der Aufklärung der NSU-Morde in vielen anderen Bundesländern auf der Tagesordnung stand. Welche Konsequenzen aus dem NSU-Untersuchungsausschussbericht für den schleswig-holsteinischen Verfassungsschutz gezogen werden müssen, wird die Auswertung dieses Berichtes zeigen.
Mein vorläufiges Fazit lautet: der effektivste Verfassungsschutz sind die Gewährleistung eines ausgewogenen und gerechten sozialen gesellschaftlichen Gefüges und eine für die Demokratie begeisternde Schulbildung.